Dorothea Nürnberg

Der Amazonas ist unser aller Leben - Ein Ökosystem im Würgegriff der Staudämme

(Neue Zürcher Zeitung, 3.8.2017)

https://www.nzz.ch/meinung/ein-oekosystem-im-wuergegriff-der-staudaemme-der-amazonas-ist-unser-aller-leben-ld.1308941
GASTKOMMENTAR von Dorothea Nürnberg 3.8.2017, 05:30 Uhr
Amazonien, die grüne Lunge des Planeten, ist durch Abholzung und Brandrodung gefährdet. Doch auch die vielen geplanten Staudämme werden unermesslichen Schaden anrichten.


«Der Fluss ist mein Leben / mein Leben hängt von ihm ab», schreibt der preisgekrönte indigene Lyriker Jaime Diakara in einem seiner Gedichte. Er lebt in São Gabriel da Cachoeira, am Oberen Rio Negro, einer Gegend, geprägt von Waldschutzgebieten und indigenen Territorien. Doch auch hier gibt es Planungen für einen Staudamm. Siebzig Staudämme sollen allein im brasilianischen Amazonasgebiet errichtet werden, Hunderte sind geplant in der gesamten Amazonasregion, die neun Länder umfasst.

Sollten all diese Vorhaben verwirklicht werden, drohen dem grössten Regenwaldgebiet der Erde irreversible Schäden. War in den vergangenen Jahrzehnten die grüne Lunge des Planeten vorwiegend durch Abholzung und Brandrodung gefährdet, auch durch Goldgewinnung und die damit verbundene Verseuchung der Flüsse mit Quecksilber, kommt nun neben dem Sojaanbau eine neue Bedrohung gigantischen Ausmasses hinzu.

Mythos «saubere Energiegewinnung»
Staudämme gefährden das Ökosystem, verändern die Wasserkreisläufe der Flüsse, führen zu verstärkter Erosion und verminderter Fruchtbarkeit entlang der Ufer. Feuchtgebiete trocknen aus, zahlreiche Arten sind vom Untergang bedroht. Forscher warnen vor den unumkehrbaren Folgen für das amazonische Ökosystem. Ganz im Gegensatz zum Mythos von «sauberer Energiegewinnung» aus Wasserkraftwerken werden durch die Überflutung Tausender Quadratkilometer Tropenwald enorme Mengen an Treibhausgasen frei.

Eine von der brasilianischen Regierung in Auftrag gegebene Studie prognostiziert, dass Dürreperioden durch den Klimawandel in Zukunft immer häufiger auftreten werden. Flüsse im Amazonasgebiet werden deutlich niedrigere Wasserstände aufweisen – die erhoffte Energiegewinnung wird ausbleiben. Im Februar 2016 war der Rio Negro aufgrund des niedrigen Wasserstandes für Passagierfähren nicht länger befahrbar, der Schiffsverkehr zwischen Manaus und São Gabriel da Cachoeira kam zum Erliegen, manche Orte waren von der Aussenwelt abgeschnitten, andere Regionen von ausgedehnten Waldbränden bedroht.

Der Amazonas, zweitgrösster Fluss der Welt, gilt als Süsswasserspeicher des Planeten, ein Fünftel des Süsswassers der Erde zirkuliert im Amazonasbecken. Studien ergaben, dass ein Urwaldbaum am Tag 1000 Liter Wasserdampf verdunstet. Über dem geschlossenen Kronendach tropischer Regenwälder steigt dieser Dampf in Höhen von bis zu 8000 Meter auf, gelangt bis nach Nordeuropa. Durch die fortschreitende Zerstörung wird der Wasserhaushalt betroffener Gebiete schwer gestört.

Binnenkolonialer Machtmissbrauch
Auch für die indigenen Ethnien Brasiliens ist der Schutz des Regenwaldes eine Frage des Überlebens. Durch die geplante Verfassungsänderung PEC 215 sollen Rechte der indigenen Bevölkerung drastisch beschnitten werden. Seit Jahren kämpfen politische Vertreter der indigenen Ethnien, unterstützt von internationalen NGO, gegen jenes Gesetz, das nichtindigenen Landbesitzern die Möglichkeit einräumt, die Anerkennung indigener Territorien zu verhindern. Auch ermöglicht die Verfassungsänderung im Fall nationaler Interessen, indigene Territorien für den Bau von Staudämmen, Bergbau oder Agrarwirtschaft zu nutzen. Proteste konnten PEC 215 bisher verhindern, der verzweifelte Kampf der Indigenen fordert jedoch jährlich zahlreiche Tote.

Aílton Krenak, eine der wichtigsten Stimmen des indigenen Brasilien, kritisiert das noch immer vorherrschende Modell kolonialen Machtmissbrauchs. Die Regierung bestimmt über das Leben der Indigenen, sie haben kein Mitspracherecht, sind in der Regierung nicht vertreten. Der Schamane Daví Kopenawa, auch er seit Jahrzehnten rund um den Globus unterwegs, um für den Erhalt des Regenwaldes zu kämpfen, warnt eindringlich vor den Folgen der Zerstörung: «Wer indigenes Land vernichtet, usurpiert, der zerstört auch das Leben der Tiere, der Pflanzen – letztlich auch die Lebensgrundlagen der Weissen.»

Wie in Belo Monte am Rio Xingu sind bei den geplanten Staudämmen am Rio Tapajós und am Oberen Rio Negro indigene Schutzgebiete betroffen. Nach zahlreichen Protesten wurde die Genehmigung für die Errichtung des Mega-Staudamms São Luiz de Tapajós (vorübergehend?) zurückgezogen, jene für das Projekt am Rio Negro aufgeschoben. Dennoch sind allein am Rio Tapajós vier weitere Staudämme geplant.

Auch der Bau des umstrittenen Kraftwerks Belo Monte konnte einige Jahre verzögert werden. Obwohl zahlreiche Auflagen nicht erfüllt wurden, ging das Kraftwerk schliesslich doch in Betrieb. Aufgrund des niedrigen Wasserstands des Flusses Xingu sind jedoch nur wenige Turbinen in Betrieb. Statt der erwarteten 11 233 Megawatt werden 4000 Megawatt produziert. In São Luiz de Tapajós würde sich das Chaos wiederholen, das sich in Belo Monte ereignet hat.

Die Zerstörung Amazoniens ist nicht nur ein südamerikanisches Problem. Es geht um die Wasserreserven des Planeten, um Verletzung der Menschenrechte und die Vernichtung der Lunge der Erde. Die Indigenen Brasiliens, auch Umweltschützer und internationale NGO benötigen unsere Solidarität. Jede Stimme zählt im Kampf gegen die Zerstörung der tropischen Regenwälder, der Flora und Fauna dieser einzigartigen Region.

Auch zahlreiche europäische Unternehmen beteiligen sich am Bau der desaströsen Staudämme, etwa Siemens oder Andritz. Wo bleibt die Anerkennung der Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die Staaten und Unternehmen dazu anhalten, Menschenrechte auch in Zusammenhang mit wirtschaftlichen Aktivitäten zu schützen? Wo bleibt die internationale Solidarität mit den bedrohten Ethnien Amazoniens, den Hütern des Waldes?

«In den Flüssen fliesst kein sauberes Wasser, die Vögel sterben aus, doch der Mensch besinnt sich nicht», klagt die indigene Lyrikerin Aurilene Tabajara. Möge die Warnung nicht länger verhallen im Lärm der Motorsägen und Turbinen!

Dorothea Nürnberg lebt als Autorin in Wien, zum Thema erschien 2015 ihr Lateinamerika-Roman «Unter Wasser».