Dorothea Nürnberg

Tanz

Über Tanz, Leben und künstlerische Begegnungen

Gedanken von Ismael Ivo

Es ist nicht einfach, etwas in Worte zu fassen, das sich so direkt an den Geist, die Seele wendet wie Tanz. Tanz, das ist jene Form der Magie, die es uns ermöglicht, mit dem Unbekannten, dem "ganz Anderen" in Berührung zu treten und eben diese Atmosphäre, diese ganz besondere Gefühlswelt in den Körper hinein zu holen, mit dem Körper auszudrücken; da der Tanz sich auf Kreativität, Phantasie, Imagination stützt, übersetzt er die Vielfältigkeit des Lebens, die Fülle an Möglichkeiten mitten hinein in die Bewegung.
Aber Tanz bedeutet nicht nur diesen magischen Aspekt, ist nicht nur ein Privileg der Tänzer, sondern betrifft vielmehr jede Form der Bewegung - Tanz i s t Bewegung, ist Leben und betrifft daher jedes menschliche Wesen, das ganze Universum. Die Welt ist in permanenter Bewegung und wir sind Teil dieses Universums, Teil dieser unaufhörlichen Bewegung, in engstem Austausch mit ihr. Wenn ein Tänzer seine Pirouette dreht, so ist er nicht allein, vielmehr ist das ganze Universum in dieser Bewegung vorhanden - in einer wunderbaren Choreographie, die für uns menschliche Wesen geschaffen wurde. Eine Choreographie, die sich auch in perfekter Harmonie im Inneren unseres Körpers abspielt, im vollendeten Zusammenspiel zwischen den Zellen, dem Nervensystem, das sämtliche Erinnerungen, Informationen speichert, dem Geist die Möglichkeit gibt, zu fliegen.
Von dem Moment an, in dem wir geboren werden, beginnt eine ununterbrochene Choreographie, die niemals endet, alle Sinne und Lebensvorgänge miteinschließt und es uns ermöglicht, all unsere Ideen, unsere Kreativität, unsere Emotionen in Bewegung umzusetzen.
Tanz hat sich in den unterschiedlichsten Richtungen entwickelt, von den einfachsten täglichen Verrichtungen angefangen - der Griff nach einem Glas Wasser - eine simple Bewegung, die zu einem künstlerischen Moment hin entwickelt wird, zu einer künstlerischen Bewegung, die höchste Sensibilität auszudrücken vermag. Die Kunstform Tanz will uns immer an die einfachsten, ursprünglichsten Lebensvorgänge erinnern, an die Grundlagen unserer Existenz, die untrennbar mit dem Universum, der Natur in Verbindung, im Einklang steht. In diesem Versuch liegt jene Rebellion des Körpers, jener "cris du corps" begründet, jene Entwicklung des Tanzes, die wir in den letzten 30 Jahren beobachten konnten - die Explosion des japanischen Buto-Tanzes, die Entwicklungen im Tanztheater, im wirbelnden Drehen der Derwische, welches uns zuruft "wach auf!, wach auf!, wach auf!, wir sind lebendig, wir tanzen... sei dir deiner Existenz bewusst, lass´ durch den technischen Fortschritt, die Übermacht der Maschinen nicht die Sinnlichkeit deines Körpers überfluten. Diese ist die wahre Kraft, diese deine Sinnlichkeit hast du richtig zu stimmen, einzustimmen, dich auf sie einzulassen und zu bewahren im Zentrum deiner Existenz!"
Tanztheater, die tänzerische Darstellung von Ideen auf der Bühne, ist ein unersetzliches Medium, da wir in der tänzerischen Bewegung die Möglichkeit haben, mit den tiefsten Quellen unserer Existenz in Verbindung zu treten. Diese tiefe, ursprüngliche Emotionalität ist durch nichts zu ersetzen, unvergesslich, da in unserem Innersten vorhanden, sozusagen unserem menschlichen System immanent.
Man kann heute Menschen klonen, Geschöpfe aus dem Computer heraus erschaffen, aber die menschliche Essenz, der menschliche Geist wird dennoch überleben, da wir höchstwahrscheinlich in direkter Verbindung zum Göttlichen stehen. Ich glaube, Gott hat die Menschen erschaffen, da er einen Spiegel seiner selbst wollte und jeder Mensch, der geboren wird, hat die Möglichkeit, seine Sensitivität und Sensibilität auszuprobieren, seine geistige Entwicklung und spirituelle Offenheit auszubauen. Jedes Leben ist eine Chance, mit jedem Menschen, der geboren wird, ist ein neuer Tänzer, eine neue Tänzerin in dieses Universum hineingeboren. Daher hat Tanz diese Magie für mich, diese Fülle an Möglichkeiten, die uns stets daran erinnert, dass das Leben das großartigste Geschenk ist, das wir haben. Ich will an dieser Stelle Maurice Bejart zitieren, der sagte: "Erzähle du mir von deinem Gott - ich kann nur an einen Gott glauben, der tanzt. Gäbe es keinen Tanz, keine Bewegung, dann gäbe es kein Universum, kein Leben. Daran glaube ich, das ist eine meiner essentiellen Lebensgrundlagen."
Als Tänzer bin ich ein Leben lang in der Situation, meine innersten Gefühle zu zeigen, mich selbst zu exponieren, meine tiefste Freude, meine Tränen, meine Enttäuschung, meinen größten Schmerz. Dieses totale Exponieren meiner selbst, diese Fülle an möglichen Emotionen gibt mir die Möglichkeit, mich lebendig zu fühlen, mit den innersten Grundlagen meiner Existenz in Kontakt zu treten. Als Tänzer, als Choreograph wandelt man, verwandelt man, tritt man mit jenen Energien in Verbindung, die hinter der Oberfläche, hinter der Fassade unser Leben bestimmen.
Auch in allen Religionen ist der Tanz fest verankert, da Tanz eine Art Feier, eine existenzielle Festlichkeit impliziert, die Freude darüber, lebendig zu sein, zu leben, mit anderen in Kontakt zu treten.

Und so kommen wir nun zu anderen Formen der Kommunikation, zu den Worten, die in diesem Buch geschrieben sind, zu den Fotografien. Auch Worte können Menschen fliegen lassen, gerade auch in der Kommunikation durch Worte kann man der Essenz des Lebens nahekommen. Jedes Medium, das uns dem eigentlichen Grund des Seins näher bringt, uns die Möglichkeit gibt aufzuwachen, bewusster zu werden ist für unser Leben von enormer Bedeutung.
Als Claudia und Dorothea bei den Proben zu "Floresta do Amazonas" anwesend waren, da erinnere ich mich an jene Texte, die Dorothea damals vorlas, Texte, die genau diese Essenz, dieses In-Kontakt-treten mit dem Urgrund, dem Sinn zum Ziel hatten.
Tanz, Literatur - Fotografie. Ich sehe die Fotografie als ein Medium, das versucht, den Augenblick festzuhalten, die Erinnerung an den Augenblick zu verewigen - jenen Augenblick der Magie, der es uns möglich macht, immer wieder zu fliegen, immer wieder, bis hinein in die Ewigkeit.
Die Art, in der Claudia in ihren Fotografien das Dargestellte festhält, gestaltet, in die Erinnerung hinein b e w e g t, neu-erschafft eröffnet die Möglichkeit zu einer neuen Freiheit, zu neuer Sicht.
Wenn in 100 Jahren auch nur eine einzige Person dieses Buch in die Hand nehmen, hineinspringen wird in die Bilder, die Worte, die verewigten Augenblicke des Tanzes, dann wird eine Verbindung entstehen, eine zeitübergreifende Begegnung mit eben jenem Augenblick magischen Erlebens, magischer Bewegung und Begegnung.
Die Betrachtung einer Fotografie, das Lesen/Hören von Literatur, die Bewegung im Tanz, alles, was in uns essentielle Gefühle auslöst, uns mit dem Urgrund unseres Seins verbindet wird ewig bestehen, denn es ist Teil des Universums, wird in eben diesem Augenblick Teil der Existenz.
Die Texte, die in diesem Buch geschrieben, die Fotografien, die in diesem Buch abgebildet sind, sind keine bloße Wiedergabe, kein bloßes Festhalten, sie sind mehr, viel mehr, sie wecken Neugier, erschaffen ein neues Universum, geben die Möglichkeit zu einer neuen Vision, und genau das ist es, was Kunst zur Kunst macht.