Dorothea Nürnberg

Tochter der Sonne

SÜDWIND MAGAZIN, Mai 2005

Die Trennung Brasiliens in eine fröhliche Gesellschaft, die auf die harmonische Vereinigung dreier Rassen stolz ist, und in ein Land der Ausgeschlossenen, die nichts spüren von der karnevalstrunkenen Selbstbeweihräucherung, wurde im April 2000 besonders manifest. Während das offizielle Brasilien seine nationalen Mythen feierte, gedachte eine „Bewegung des indianischen, schwarzen und Volkswiderstandes“ auf ihre Weise des 500. Jahrestages der Kolonisierung des Landes. Ihr Protestmarsch zu jenem Ort, wo vor 500 Jahren die portugiesischen Eroberer erstmals brasilianischen Boden betraten, wurde durch einen brutalen Einsatz der Militärpolizei gestoppt. Dorothea Nürnberg war dabei.
Als die Portugiesen ankamen, lebten in dem riesigen Land an die fünf Millionen Menschen. Heute sind von der Urbevölkerung noch etwa 300 000 übrig geblieben.

Im Herbst 1997 bringt ein Erdbeben viele Häuser und die Kathedrale von Assisi zum Einsturz. Zerstörung über der Stadt des Hl. Franziskus, der sich als Bruder der Erde und aller Lebewesen verstand, genau so wie es der Weltsicht der indianischen Völker im Amazonasgebiet entspricht. Und die Vorsehung hat zwei Geschwister dieser Stadt, Gianfranco und Chiara, dazu ausersehen, in die Tiefen des amazonischen Urwalds und der indianischen Kosmovision einzutauchen.

Verheerende Waldbrände fressen sich Anfang 1998 zwei Monate lang in diesen Urwald; der größte Brand, den man je im Amazonasraum registriert hatte. Brandrodung, Brandstiftung und das Wetterphänomen Niño sind die Väter der Katastrophe. Als alle Löschversuche scheitern, lässt die staatliche Indianerschutzorganisation FUNAI zwei Kayapó-Schamanen aus dem Mato Grosso in den Bundesstaat Roraima einfliegen. Sie führen am Ufer des Rio Branco ein Ritual durch, und Stunden später geht ein schwerer Regen nieder, der 95 Prozent der Brände löscht.

Aus diesen drei Handlungssträngen flicht die Autorin, die schon in ihren früheren Büchern ihre Sensibilität für außereuropäische Kulturen und Denkweisen eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, die Geschichte einer Expedition in den Regenwald. Eine Expedition, der sich die Leserin, der Leser mit großem Gewinn anschließen kann, die hilft, die engen Grenzen unserer rational bestimmten Welt zu erweitern, sich verloren gegangenen Bewusstseinsschichten intuitiver Wahrnehmung und Erkenntnis wieder anzunähern.
Durch ihre Kenntnis indigenen Denkens und ausgestattet mit dem nötigen Einfühlungsvermögen, gelingt der in Graz geborenen, in Wien lebenden Autorin ein erstaunliches Eintauchen in die Mittelpunkte indianischer Weltsicht. Ein Eintauchen in jene Wirklichkeit, die den Menschen den Blick auf die wahre Welt ermöglicht. Diese Innenreisen nehmen manchmal dramatische, mit-reißende Züge an, etwa die Schilderung des Regenrituals, um die katastrophalen Waldbrände zu bekämpfen.

„Tochter der Sonne“ ist auch ein sehr sinnlicher Liebesroman, ein Reiseroman, ein Abenteuerroman, ein spiritueller Roman. Gianfranco, der Sucher aus Assisi, stellt sich im Regenwald die Frage, mit der wir uns alle auseinandersetzen müssen, die ein wenig eintauchen wollen in das Reich der intuitiven Erkenntnis: Wie können wir die dort erworbenen Wahrnehmungsfähigkeiten aufrecht erhalten in der Einöde des materialistisch orientierten europäischen Alltags? Ich würde sagen: Ab und zu ein Buch wie dieses lesen ist sicher kein Nachteil.


KURIER, 20.11.04
Gunther Baumann

„Ungezähmt und verführerisch
Dorothea Nürnbergs Amazonas-Reiseroman „Tochter der Sonne“

Reisen: Für viele Zeitgenossen bedeutet das Strand, Meer, Restplatzbörse – und aus. Das Ziel ist egal; einzig die Entspannung ist wichtig. Dorothea Nürnbergs Roman “Tocher der Sonne“ erzählt von einer anderen Art des Reisens. Zwei Europäer wagen sich vor in die Tiefen des Amazonas-Regenwaldes. Sie entdecken eine betörend schöne Welt, die freilich auch viele Gefahren birgt. Piranhas und Krokodile, Schlangen und Stromschnellen: In diesem Ambiente kann der Fremde nur überleben, wenn er sich den Regeln der Einheimischen anpasst.
Der Text entfaltet ein ähnlich ungezähmtes und zugleich verführerisches Bukett an Eindrücken wie der Dschungel selbst. „Tochter der Sonne“ ist Abenteuerroman und Liebesgeschichte, Reisebericht und philosophischer Exkurs.
Die Wiener Autorin überrascht den Leser mit immer neuen Begegnungen und Brückenschlägen.
Europa trifft auf Lateinamerika; die Atem raubende Welt eines Naturparadieses auf die harte Realität der indigenen Bewohner Amazoniens, deren Lebensgrundlage durch Brandrodungen und die Ausbeutung des Waldes bedroht ist. Die Autorin entdeckt verblüffende Parallelen zwischen dem spirituellen Wissen der Indigenen und den europäischen Lehren eines Franz von Assisi.
So wechselt dieses spannende, farbige Buch zwischen poetischer Fiktion und konkreter Lebenswirklichkeit. Dorothea Nürnberg ist eine aufmerksame Beobachterin; sie schreibt in einem direkten, entschlossenen Stil. Manchmal erinnert ihr Text an die literarischen Reportagen eines Bruce Chatwin.
„Tochter der Sonne“ ist ein Roman, der den Leser in eine exotische Welt entführt, die den meisten in der Realität verschlossen bleibt. Weil sie sich in dieses Paradies voller Weisheit und Schönheit, aber auch voller Bedrohungen niemals hineintrauen würden. Zumindest nicht abseits der touristischen Trampelpfade – und die gibt es in Amazonien gottlob noch kaum.“

Ö1 in der Sendung BEISPIELE 10.3. 2006