Dorothea Nürnberg
„Unter Wasser“
Roman
Die Vernichtung der tropischen Regenwälder gilt den meisten Europäern als fernliegendes Problem, doch ist die Abholzung Amazoniens keine innerbrasilianische Angelegenheit. Mit der Errichtung des weltweit angefeindeten, gesetzeswidrigen Staudamms Belo Monte hat die Zerstörung des brasilianischen Regenwaldes einen kritischen Punkt erreicht, der sich nicht nur auf das Klima Südamerikas verheerend auswirkt.
Der Roman „Unter Wasser“ handelt von den vielen Facetten dieser Katastrophe. Drehpunkte der Handlung sind Wien, Amazonien, Mexiko City und São Paulo. Iracema, die Tochter eines Schamanen der Kayapó, die ihr Leben der vergeblichen Rettung ihres Volkes widmet, ein Bauingenieur jenes brasilianischen Energielieferanten, der den Staudamm errichtet, durch die Begegnung mit Iracema einen Bewusstseinswandel erfährt, die Auswirkungen der Zerstörung Amazoniens sehr rasch in seinem eigenen Umfeld erlebt – seine betagte Mutter stirbt im Zuge einer extremen Hitzewelle in Rio de Janeiro, die Wasserversorgung seiner Heimatstadt São Paulo bricht zusammen. Diego, Carioca und passionierter Fotograf, auch Maler und Musiker, gestaltet einen Abgesang, einen Nachruf auf eine der schönsten Landschaften des Planeten und dessen Bewohner, lernt erst über den Umweg der Zerstörung die Naturwunder seiner Heimat kennen.
Chantal, Wienerin und Südamerikaexpertin, gerät durch eine Affaire mit einem hochrangigen Vertreter der Sorglos.AG, die Millionen an den Geschäften rund um den Staudamm verdient, in psychische Abgründe – ebenso wie dessen Frau Anna. Chantal findet Heilung in der Freundschaft mit einer mexikanischen Nachfahrin aus dem Volk der Azteken, Anna kehrt dem luxuriösen Leben an der Seite ihres Mannes den Rücken, zieht sich in die Obersteiermark zurück.
Selbstverlust auf vielen Ebenen bestimmt das Schicksal der Protagonisten des Romans. Verlust der Selbstachtung, der eigenen Wahrheit, Verlust der Identität. Doch haben die Katastrophen rund um die große Flut – Symbol auch für Verdrängtes, Schattenhaftes der Psyche – einen reinigenden, läuternden Effekt. Für die Vertreter der indigenen Völker jedoch bleibt keine Hoffnung, auch kein Trost, sie verlieren durch die Überflutung ihrer Territorien Heimat, Kultur, Selbstachtung und Lebensgrundlage.
„Ein fesselnder Entwicklungsroman rund um das umstrittene Staudammprojekt Belo Monte, eingebettet in eine dem Untergang geweihte Kultur, und eine Liebeserklärung an das indigene Denken.“
(Irmgard Kirchner, Chefredakteurin Südwind-Magazin)
„Dorothea Nürnberg stellt eine Frage, die niemanden kalt lässt: In welcher Welt wollen wir leben? Je tiefer man in die Psyche der Romanfiguren eindringt, umso klarer erkennt man für sich: Stirbt der Amazonas, dann stirbt der Mensch. Denn so wie das Wasser die wichtigste Lebensquelle unseres Planeten ist, so sehr braucht die menschliche Seele die Verbundenheit mit der Welt.
„Unter Wasser“ ist ein großer Roman, der mich betroffen gemacht hat.“
(Andreas Salcher, Bestsellerautor)
Literaturhaus, 13. Dezember 2016, Herbert Först
http://www.literaturhaus.at/index.php?id=11395
Dorothea Nürnberg: Unter Wasser.
Roman.
Wien: Ibera Verlag, 2015.
272 Seiten; geb.; Euro 19,-.
ISBN 978-3850523462.
"Auftauchen aus den Fluten der Selbstentfremdung"
In ihrem Roman "Unter Wasser" verknüpft Dorothea Nürnberg die gigantische Zerstörung durch den Staudamm Belo Monte mit Prozessen existentieller Befreiung.
Schon der Titel "Unter Wasser" verweist auf die Vieldeutigkeit des Symbols Wasser. In ihrem jüngsten Roman spürt Dorothea Nürnberg – ausgehend von der "500 Jahre währenden Geschichte der Vernichtung der indigenen Völker Brasiliens", die im Staudammprojekt Belo Monte "einen neuen Höhepunkt" (S. 155) erreichen wird – C. G. Jungs Deutung des Elements Wasser nach, die als Motto dem Roman vorangestellt ist:
"Wasser ist ein Symbol für das Unbewusste, (…) Man muss tief in dieses Wasser hineintauchen, um aufzusteigen, zu verstehen." (S. 5)
Dramaturgisch überzeugend verknotet die Autorin die Lebensgeschichten mehrerer Personen zu einem spannenden Erzählteppich, der von Wien über Graz nach Altamira am Amazonas, Mexico City und Sao Paulo reicht. Jede der Figuren verkörpert zunächst eine eher verfahrene, mitunter erstarrte Existenzmöglichkeit: Chantal, engagierte Mitarbeiterin der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit, erliegt dem Charme und Luxus Peter Grabners, Vorstandsmitglied und Miteigentümer jenes Konzerns, der maßgeblich an der Umsetzung des weltweit umstrittenen Staudammprojekts beteiligt ist; Paulo, Mitarbeiter im Planungsteam des brasilianischen Energielieferanten, der das Projekt koordiniert, begegnet der jungen Iracema, Angehörige des indigenen Stammes der Kayapo; Diego, Künstler und Fotograf, bricht in den Regenwald Amazoniens auf, um "jene untergehende Welt am Rio Xingu" und die "Lebenswelt der Uferbewohner" (S. 75), denen eine gewaltsame Umsiedlung droht, zu dokumentieren; und da ist auch noch Anna in Graz, Peters betrogene Ehefrau und Mutter von drei Kindern, die in ihrer Rolle als duldende Frau sich selbst und ihre Lebenspläne sträflich zurückgestellt hat. Fünf dieser sechs Figuren erfahren im Verlauf der Geschichte folgenreiche Wandlungen, finden mehr oder weniger zu sich selbst.
Peters Charakterstruktur verändert sich nicht: Blind für die Zerstörungen, die er anrichtet, bleibt er seiner Lebensmaxime treu und lebt sie auf Kosten anderer rücksichtslos aus. Seine von Chantal ausgelöste Reise "aus seinem wohlgefügten, luxuriösen Dasein ans andere Ende der Welt, (…) in die Wildnis, die Barbarei" (S. 29) bleibt eine Episode, wird zur "absurdesten Reise seines Lebens" (S. 193). Seine Gegenspielerin, der er nie begegnet, ist die aztekische Heilerin Maria Jolanta in Mexico City. Auf sie trifft die "an den Rand eines psychischen Abgrunds getriebene" (S. 171) NGO-Aktivistin Chantal, der "die innere Heimat abhanden gekommen" ist (S. 141), und erfährt eine tiefgreifende "Heilung", die sie künftig selbstbewusst den Weg gehen lassen wird, den ihr Innerstes ihr weist. Mit einem Brief öffnet sie Anna in Graz die Augen und versetzt sie dadurch in die Lage, sich aus ihrer demütigenden Bindung an Peter zu befreien und "wieder ein Ziel vor Augen" (S. 182) zu sehen.
Iracema, die Tochter eines Kayapo Schamanen, ist in die Stadt gezogen, um in einer indianischen Dachorganisation für die Rechte ihres Volkes zu kämpfen:
"Seit Iracema in Altamira lebte, litt sie unter innerer Vereinsamung, vermisste sie die lebensvibrierende Fülle der Natur, das traute Beisammensein von Mensch und Tier, das in ihrem Dorf einen wichtigen Bestandteil des Lebens ausmachte." (S. 64)
Angesichts der Hoffnungslosigkeit ihres Einsatzes will sie in den Stromschnellen des Amazonas ihrem Leben ein Ende setzen, doch Paulo rettet sie. In der Begegnung mit dieser Frau lernt er die Lebensweise der Kayapo verstehen und ist fortan nicht mehr bereit, das Staudammprojekt mitzutragen:
"Ein waghalsiger Sprung in die Fluten des Rio Xingú und sein Weltbild, sein Denken war zurechtgerückt worden." (S. 101)
Das alles erzählt Dorothea Nürnberg in einer rastlos drängenden Sprache, in der sowohl die psychischen und geistigen Umbrüche der Figuren als auch das rasende Tempo der Zerstörung zu spüren sind. Ihre Sprache hat es aber auch in sich, in der "Amazonischen Symphonie" einen hymnischen Lobpreis auf den Regenwald zu singen:
"Langsam schält sich die Sonne aus dunklen Wolken.
Adagio – verebbende Klangkaskaden in dampfenden Nebeln, Farbkaskaden, sich weitend, schimmernd, schillernd, Smaragd, Saphir, Turmalin.
Das Rauschen des Flusses – Moderato – Sostenuto.
Doch plötzlich Stromschnellen, Wasserfälle, schillernd, wirbelnd, berauschend schön – Vivacissimo, Prestissimo – jagende, rasende, rauschende, sich überschlagende, dahinjagende Klänge, hochauffliegend zwischen Felsen aufbrandende Gischt. (…)
In die Nacht gleitende, niemals verklingende, stets neue Klänge erfindende, vibrierende Lebenssymphonie." (S. 85f.)
Überzeugend funktional auch die Erzähltechnik: Die Geschichte entfaltet sich multiperspektivisch. Mit ausgedehnten Passagen in erlebter Rede erzählt jedes der 23 Kapitel aus der personalen Perspektive einer der Figuren. Thematisch und atmosphärisch angereichert werden die Kapitel durch Motti, die aztekischen Texten entnommen sind.
Dieses stimmige Ineinander von Plot, Sprache und Erzähltechnik lässt einen beachtlichen Sog entstehen, der erst im letzten Drittel etwas an Überzeugungskraft einbüßt, wenn in der Erzählung von der "Heilung" Chantals die Diktion bisweilen ins Esoterische abzugleiten droht.
Schon nach wenigen Kapiteln wird eines offenkundig: Dorothea Nürnberg geht es nur vordergründig um eine Beziehungsgeschichte; sie wird erzählt, um das fundamentale Gegenüber zweier Lebensweisen zu thematisieren und die Tatsache zu diskutieren, dass die westliche Industriegesellschaft Ergebnis einer fatalen Selbstentfremdung ist.
"In Wahrheit jedoch hüteten die indigenen Völker den Wald, schützten sie die Natur, bewahrten sie das Wissen um deren Gesetze – waren sie Hüter und Wächter der Erde und des Himmels (…) Die Weißen hatten den Bezug zu ihrer Mutter, der Erde verloren, ebenso wie zu ihren Geschwistern, den Tieren, Pflanzen, Bäumen – dem Regenwald." (S. 64)
Im Staudamm Belo Monte und seinem Homo Faber Peter manifestiert sich das Potential an Zerstörung, das dieser westlichen Lebensweise innewohnt; diametral anders die aztekische Heilerin Maria Jolanta und das Volk der Kayapo: Sie leben aus der Einsicht in eine kosmische Einheit:
"Steine, Erde, Wasser, Pflanzen, Sonne, der Mond, der Baum, die Schlange, der Bär und der Adler sind uns heilig. Vergesst es nicht, vergesst es niemals. Auch ihr seid ein Teil davon." (S. 130)
In der vielschichtigen Wasser-Symbolik erfährt der Roman seine Verdichtung. Durch den Staudamm am Rio Xingú – der Name bedeutet "klares, reines Wasser" (S. 102) – werden die Kayapo ihre Lebensgrundlagen verlieren:
"Der Fluss ist unsere Mutter, unser Vater, er gibt uns Nahrung, Freude, Leben – und er trägt uns nach Hause." (S. 102)
Ambivalent wie bei jedem Symbol sind die Konnotationen, die das Wasser in diesem Roman mit sich führt: Es ist sowohl zerstörende Flut als auch reinigende Sintflut und Element der Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung:
"Anna begann aufzutauchen aus den Fluten der Selbstentfremdung. Begann wieder zu sehen und die labyrinthartigen Verirrungen auf ihrem Lebensweg zu erkennen." (S. 180)
Die Essenz ihres Romans zusammenzufassen überlässt Dorothea Nürnberg der "Heilerin" Maria Jolanta, die in einer langen Rede die Weisheit indigener Völker erläutert:
"Wir indigenen Völker wissen, dass alles Leben in Einheit, Einklang pulsiert, dass mit jedem Lebewesen, jeder Art, die auf dieser Erde ausgerottet, vernichtet wird, auch ein Teil von uns selbst verloren geht. Wir Menschen können nicht gegen die Natur, die Gesetze des Kosmos, des Geistes verstoßen, ohne gleichzeitig auch uns selbst zu vernichten." (S. 210)
Angesichts der dramatischen Entwicklung, der der Planet Erde infolge vielfältigster Zerstörungen unterworfen ist, muss der Autorin für diesen Text gedankt werden, der in letzter Konsequenz zum Appell wird, die "eigene Wahrnehmung zu hinterfragen" und "konditionierte Denkmuster zu weiten" (S. 238) – dies auch dann, wenn wir meinen, dass es ohnehin schon zu spät ist.
KURIER, 5. Februar 2016
So wird Chantal zu einer Chanatl, von Peter Pisa
Roman - Bei Erika wäre das nicht so gut gegangen. Bei Helga auch nicht. Deshalb muss die Heldin aus Wien Chantal heißen: Sie ist nämlich in Brasilien unterwegs und lernt bei den Azteken sich kennenzulernen. Fortan ist Chantal eine Chanatl. Aber vergaloppieren wir uns nicht in einem Nebenaspekt: "Unter Wasser" der gebürtigen Grazerin Dorothea Nürnberg ist der Roman eines Irrsinns - des Staudammprojekts Belo Monte. Andritz ist beteiligt, dieser Tage stoppte ein Gericht den Bau. Etwas zerstückelt ist der Roman, aber treffend und betroffen machend.
Martin Stankowski (Literarisches Österreich)
Dorothea Nürnberg, Unter Wasser, Roman, Wien Ibera 12/2015, 259 S., ISBN 978-3-85052-346-2
Es war eines der Paradebeispiele für großflächige Umweltzerstörungen mit weltweiten Auswirkungen: der Bau des Staudamms Belo Monte am Rio Xingú im Amazonien Brasiliens (er ging 2016 in Betrieb mit einer geplanten Endbaustufe 2019). Gegen ihn schreibt – literarisch – Dorothea Nürnberg an. Und auf ihn bezieht sich der Titel, sowie, nicht sogleich evident, auf das Phänomen starken Regens, Sintflut und Regeneration zugleich. Neben der Stadt Altamira als Dreh- und Angelpunkt des Projekts rückt noch Mexiko-Stadt, Hauptort der iberischen Eroberung, in das Geschehen: «Lateinamerika» bedeutet folglich nicht nur Aktualität, sondern überdies das Eintauchen in die niemals ganz verschwundene, nunmehr markant ja fordernd wiederauftretende indigene Kultur, sei es der Indios im Regenwald, sei es der Azteken (die durch die den Kapiteln vorangestellten Denksprüche große Wirksamkeit erzielen). Aufgrund einiger Protagonisten kommen dann noch Wien und die Steiermark vor, primär als Projektionsfläche für die dort beheimateten Beteiligten.
Dadurch ergibt sich ein vielteiliges «Mosaik», allerdings in grossen Formaten, wenngleich mit feiner Binnenzeichnung. Geführt werden die Lesenden durch die Vornamen über den 22 Kapiteln. Bei allen Personen geht es, stufenweise, sehr stark um Verantwortung: für die Fakten und die Einstellung zu ihnen, für die Selbstachtung und die zwischenmenschliche Berührung. Diese Schuldigkeit schließt viele Verwicklungen ein: zwischen den Handelnden im unmittelbaren Austausch, als Selbstzweifel oder gar Selbstentfremdung bis zum drohenden Selbstverlust, als Zusammenbruch und Neuanfang, als Besinnung auf die eigenen Wurzeln. Das Spannende, genauer: das Eindringliche liegt in den unterschiedlichen Blickwinkeln zu den gleichen oder vergleichbaren äußeren und inneren Fragestellungen, wobei diese Perspektiven differente Zugehensweisen generieren, «man» in der Antwort also ebenso annehmen wie ablehnen kann.
Die Autorin geht wie bei einem textilen Werk nicht linear vor, indem die verschiedenen Fäden zum einen sich zum Muster verdichten, zum anderen von dort aus zu weiteren Verbindungen ansetzen und mittels «Rückblenden» neue Motive gewinnen. Da ist zunächst Peter Grabner (nomen est omen), Manager eines am Damm beteiligten Unternehmens, der, den Freuden nicht abhold, sich auf einen längeren Seitensprung mit der Umweltaktivistin Chantal einlässt. Die anfangs meint, ihn dabei zu bekehren (was am Buchbeginn zu dessen bald abgebrochener Reise nach Altamira führt), dann aber in einer tiefen Sinnkrise in die wohltuenden Hände einer Heilerin gelangt (und als Chanatl das den Bogen schlagende Schlusswort erhält). In dieses Geflecht eingelagert sind weitere Figuren: Ehefrau Anna, die, nach Kenntnis der Verfehlungen des Gatten, zu einem selbstbestimmten Leben zurückfindet; Paulo, aus São Paulo stammender Ingenieur im Staudammcamp, der – nach dem Kontakt mit Iracema, die als indigene Vorkämpferin nach wie vor mit dem Urwald in enger innerlicher Verbindung steht – grundlegend am Projekt zu zweifeln beginnt und sogar, als unmittelbare Auswirkung, die große Wassernot in der Heimatstadt miterlebt; sowie Diego, der als Fotograf die Konsequenzen zieht und die dem Untergang geweihte Welt in Bild und Ton aufnimmt. Mit diesen Hauptträgern des Romans treten weitere Menschen in Kontakt: namentlich Jandir, Vater Iracemas und Schamane der Kayapó, und Maria Jolanta in Mexiko, die ungeachtet bescheidener Verhältnisse die heilkräftige Verbindung zwischen indianischen und christlichen Werten herzustellen vermag. Wie bei einem Teppich bleiben aus (Leser-)Distanz die Beobachtungen nicht einfach in sich «stehen», sondern Dorothea Nürnberg verflicht darin weitere Beziehungen, wodurch etwa auch Parallelentwicklungen entstehen.
Das Ende bleibt offen, weil nicht abgeschlossen. Dennoch: der Staudamm wird weitergebaut, die Umsiedlung des im Fokus stehenden indigenen Stamms stattfinden, die weitflächige Zerstörung der Natur fortschreiten. Immerhin gelingt (im Buch) eine umfangreiche Dokumentation in Bild und Ton, die Selbstorganisation verfolgt die Indiobevölkerung weiter. Zum anderen legt die Auseinandersetzung mit Sachlage und Vergangenheit in den Personen menschliche Grundlagen offen, deren Entfaltung «absehbar» sind, weil der beschworene Geist weiterwirken wird – und der Titel somit an C.G. Jungs Wasser als Symbol für die Auseinandersetzung mit den Schatten erinnert.
Das Buch bezeichnet sich als Roman. Es ist einer, verfolgt man die Erzählung von den im Handeln und in der Spiegelung der Fakten sich entwickelnden Personen. Der sprachliche Duktus geht meist von einer situativen Beschreibung aus, gewinnt da und dort sogar poetisches Niveau, insbesondere in der «Symphonie» des Waldes (82 ff). Und ist es doch nicht, denn es handelt sich ebenso um einen Bericht: durch vielfache Informationen zur gravierenden Umweltproblematik, durch ethnologische Hinweise, namentlich zum Schamanismus, zu den indigenen Lebensumständen und der Welt der Konquistadoren. In diesen Passagen wechselt die Sprachform, in welcher inhaltliche Aspekte wie in einer Fallstudie statt in Dichte in Breite auftreten, was die Häufigkeit von Hilfsverben erlaubt oder Detailerklärungen.
Schließlich erweist sich das Coverfoto als überzeugend wegweisend: Der große Solitärbaum spiegelt sich im Wasser, wobei die Prägnanz seiner Krone hier, im Schattenbereich, deutlicher zu Tage tritt. Das ausgezeichnete Bild vermittelt darüber hinaus die zweifellos ebenso hohe Befähigung der Autorin zur (Kunst-)Fotografin …
Zum Schluss noch dies: In einem 10 Jahre älteren Roman «Tochter der Sonne» entwickelte die Autorin bereits dieselbe Problematik, hier als Schilderung von Reisen, die in der Auseinandersetzung mit dem Unbekannten neue Perspektiven auch für die abendländische Welt eröffnen.
Martin Stankowski, Literarisches Österreich 2017/2
Lateinamerika anders
Österreichs Zeitschrift für Lateinamerika und die Karibik, 2/2017
VERHÄNGNISVOLLES
BELO MONTE
Dorothea Nürnberg: Unter Wasser
Roman; ibera Verlag Wien, 2015,
272 Seiten, € 19,–
Die Autorin hat einen Entwicklungsroman mit Österreich-Bezug vor dem Hintergrund des in Bau befindlichen Wasserkraftwerks
Belo Monte in Brasilien vorgelegt. Die gebürtige Grazerin lässt den ersten auftretenden Charakter, Peter, unschwer als führenden Manager jenes heimischen Konzerns erkennen, der auch ganz real an dem folgenschweren Projekt beteiligt ist: der Andritz AG. Der macht - bewusste Erfolgstyp ist im Nachklang einer für ihn untypisch widersprüchlichen Affäre mit der Wiener NGO-Aktivistin Chantal inkognito zum Baustellenort Altamira im Amazonas gereist. Doch noch ehe er dort möglicherweise die Augen geöffnet bekäme, insbesondere durch einen beabsichtigten Besuch bei Dom Erick (aka Bischof Erwin Kräutler), holt ihn die Vergangenheit ein: Chantal, noch im Nachhinein gepeinigt sowohl von Peters manipulativem Charakter als auch von eigenen nun aufbrechenden Lebenslügen einer
Fast-Fünfzigerin, hat in einem unbedachten Schritt Peters Frau Anna die Affäre schriftlich gestanden. Die schon länger ahnungsvolle Anna leitet daraufhin die sofortige Trennung in die Wege, nicht zuletzt, um den Manipulationen ihres Mannes zuvorzukommen. Chantal ist währenddessen nach Mexiko gereist, wo sie in Begleitung einer (indigenen?) Heilerin zu sich selbst findet.
Diesem österreichischen Dreiergespann steht ein brasilianisches gegenüber. Paulo stammt aus São Paulo und ist als Techniker auf der Baustelle von Belo Monte beschäftigt. Er macht sich wenig Gedanken über die Auswirkungen des Staudamms auf die lokale Bevölkerung,namentlich die Indigenen, bis er die Aktivistin Iracema vor einem Selbstmord bewahrt. Iracema hat sich gegen familiären
Widerstand von ihrem Volk entfernt, um in der Welt der Weißen gegen das Kraftwerk anzukämpfen. Die Erfolglosigkeit lässt sie zu der Tat schreiten. Paulo und Iracema kommen jedoch nicht zusammen, weil sich die Ereignisse überschlagen und Iracema überstürzt beschließt, die letztenTage bei ihrem Volk zu verbringen, bevor dieses infolge Überflutung absiedeln muss.
Paulo kehrt desillusioniert nach São Paulo zurück: Er beschließt, nicht mehr für das Kraftwerk zu arbeiten, und erlebt gleichzeitig Klimafolgen, die potentiell mit dem Zurückdrängen des Amazonas-Regenwalds in Zusammenhang stehen (Wasserkrise in São Paulo; seine betagte Mutter stirbt in Rio infolge einer Hitzewelle). Diego ist Carioca (aus Rio de Janeiro) und hat es sich zum Ziel gesetzt, die untergehende Welt der Indigenen fotografisch zu dokumentieren. Das Vorhaben gelingt schließlich in Iracemas Dorf.
Der einzige Berührungspunkt von Protagonisten der beiden Dreiergespanne ist schließlich eine Galerie in der Wiener Innenstadt, in der Diego im Beisein der genesenen Chantal seine Fotos zeigt. Ein ressentimentgeladener Peter schaut ebenfalls kurz vorbei, verlässt aber fluchtartig und unerkannt das Lokal, nachdem er Chantal bemerkt hat.
Es gelingt der Autorin vor dem Hintergrund der sich anbahnenden ökologischen Katastrophe rund um das Kraftwerk Belo Monte auch den damit zusammenhängenden Verlust an Kultur und Beziehung einzubringen.
An erster Stelle steht natürlich der Heimatverlust der lokalen Bevölkerung, aber auch die nicht ortsansässigen Protagonisten leiden – vielleicht ein Hinweis auf die indigene holistische Sicht, wonach die verschiedenen Sphären eins sind.
Apropos: Interesse an indigener Vision ist empfehlenswert. Namentlich die Genesungsszene von Chantal im Beisein der
Heilerin ist unter Beifügung zahlreicher mythologischer Referenzen sehr ausführlich geraten.
Jürgen Kreuzroither
50 Jahre Lateinamerika-Institut
Freitag, 4. Dezember 2015, 19:00 Uhr
Präsentation und literarische Lesung: Dorothea Nürnberg: Unter Wasser, Roman, Wien, Ibera 2015. Die Vernichtung der tropischen Regenwälder gilt den meisten Europäern als fernliegendes Problem, doch ist die Abholzung Amazoniens keine innerbrasilianische Angelegenheit. Mit der Errichtung des weltweit angefeindeten Staudamms Belo Monte hat die Zerstörung des brasilianischen Regenwaldes einen kritischen Punkt erreicht, der sich nicht nur auf das Klima in Südamerika verheerend auswirkt. Der Roman „Unter Wasser“ handelt von den vielen Facetten dieser Katastrophe. Drehpunkte der Handlung sind Wien, Amazonien, Mexiko City und São Paulo. Dorothea Nürnberg ist bekannt als Autorin, die sich in ihrem umfangreichen literarischen Werk sozialer und ökologischer Themen annimmt. Zahlreiche Reisen führten sie an den Amazonas und zu indigenen Protestbewegungen. Einige ihrer Romane sind auch in Brasilien, Indien und Chicago erschienen. In dem Roman „Unter Wasser“, Metapher auch für das Schattenhafte der menschlichen Psyche, webt die Autorin Fäden unterschiedlicher Kulturen und diametraler Denkweisen zu einem Teppich der Wortkunst, die sich dennoch an der politischen, sozialen und ökologischen Realität orientiert. Der Weltsicht und intuitiven Weisheit der indigenen Ethnien des Xingú steht die Maxime westlichen Wirtschaftsdenkens entgegen. Der Zauber amazonischer Naturschönheit verliert sich in den roten Staubwüsten rund um Belo Monte. Die psychische und ethische Verrohung mancher westlicher Protagonisten findet ihren Gegenpart in der alten Heilkunst der Völker Südamerikas – Azteken und Maya ebenso wie in den Traditionen der Amazonasvölker. „Ein großer Roman, der mich betroffen gemacht hat“ Zitat Dr. Andreas Salcher, Bestsellerautor.
Ort: Europasaal des österreichischen Lateinamerika-Institutes, Türkenstr. 25, 1090 Wien
Textvorstellungen - Motto: Literarische Spurensuche
13.06.2017 - 19 Uhr
AS – Alte-Schmiede-Werkstatt | Schönlaterngasse 7A, 1010 Wien
http://www.alte-schmiede.at/programm/2017-06-13-1900/
DOROTHEA NÜRNBERG (Wien) Unter Wasser. Roman (Ibera) • Redaktion und Moderation: RENATA ZUNIGA
Rund um das umstrittene Staudammprojekt Belo Monte, das für 40.000 Indigene die gewaltsame Umsiedlung und für unzählige Baumriesen den Tod bedeutet, siedelt Dorothea Nürnberg ihren Roman an. Zwischen exotischen Romanfiguren finden sich drei Österreicher. Für den Unternehmer, der vom umstrittenen Bau wirtschaftlich profitiert, seine Geliebte, eine kämpferische Ökologin, und die betrogene Ehefrau führen unterschiedliche Haltungen zu Natur und Kultur auch zu tiefgreifenden persönlichen Konsequenzen.
Stufenloser Zugang zu Galerie und Schmiede-Werkstatt, Barrierefreies WC im Erdgeschoss.
Zu Veranstaltungszeiten Behindertenparkplatz vor dem Haus Schönlaterngasse 13.
Freier Eintritt bei allen Veranstaltungen in der Alten Schmiede!