Heimkehr in ein fremdes Land
(Der Standard, rondo/14/01/2000)Eine Reise in das häufig als "grüne Hölle" verkannte Amazonien ist eine Reise in ein außergewöhnliches Ökosystem. Und zugleich auch eine Begegnung mit der eigenen Psyche in zivilisationsfernen Dschungelmächten.
"Hier seht ihr die einzige Brücke über den Amazonas" - europäische AmazonasBootstourExpeditionsteilnehmerAugen folgen der Handbewegung des AmazonasBootstourExpeditionsleiters, welche bugwärts einen großen Himmelsbogen, Regenbogen beschreibt, hell leuchtend vor grauen Regenwolken über dunkelgrünen Urwaldriesen. Die einzige Brücke über den größten und vielleicht auch beeindruckendsten Strom der Erde - ein Regenbogen - feuchtigkeitsschillernd wie die Ufer, die die imaginäre Brücke miteinander verbindet. Amazonien - eine Reise in den größten Regenwald der Welt, in das weitverzweigte Flusssystem einer der letzten geschlossenen Naturlandschaften dieses Planeten, ein Ausflug in einen Garten Eden, von Zivilisations-geschädigten, Profitgier-getriebenen Bewohnern der westlichen Welt häufig als "grüne Hölle" verkannt, von Indios, Forschern, Naturliebhabern als eines der außergewöhnlichsten und beeindruckendsten Ökosysteme der Erde erkannt.
Eine heftige Windböe jagt über den aufgewühlten Fluss, dann durchbricht die Tropensonne die dunklen Wolken und schmilzt den Regenbogen wieder in sanftes Blau, gerade noch rechtzeitig für den feuerroten Sonnenuntergang in den schwarzen Wassern des Rio Negro, deren exakte Spiegelung die Sonne verdoppelt. Ein Tag in den Paranas, den Seitenarmen des Rio Negro, ein Ausflug in den Überschwemmungswald fließt in die Tropennacht. Langsam klettert der zunehmende Mond in seine noch sehr schmale Hängematte, die Stämme der mächtigen Seiben in fahles Weiß tauchend, während das Quaken der Frösche, das Zirpen der Grillen, der Schrei des Nachtfalken, das langsam an- und abflauende Tosen der Brüllaffen die feuchtwarme Dunkelheit erhellt. Amazonien - Begegnungen mit dem Regenwald, Begegnungen mit den unterschiedlichen Wasserarten dieses riesigen Flusssystems, das sich in Weißwasser-, Schwarzwasser- und Gelbwasserflüssen verströmt, Begegnungen mit Überschwemmungswäldern und Terra firme-Regenwald, mit der unberührten Schönheit einer bis in die kleinste Nische komplex organisierten Pflanzen-, Tier- und Mikroorganismengemeinschaft; Begegnungen mit den verdrängten, Zivilisations-übertünchten Urängsten der eigenen Psyche, Begegnungen mit den erschreckenden Auswirkungen der sich wie ein Geschwür in den Regenwald hineinfressenden Zivilisation selbst. Über Hunderte von Quadratkilometern sich ausdehnende Wunden und Narben in Form von gerodeten Flächen und Rauchsäulen und roter Wüste und Brandherden über vereinzelt grünen Flecken kennzeichnen das Bild aus 10.000 Metern Höhe über Mato Grosso, Rondonia und Alto Xingú auf dem Flug von São Paolo nach Manaus.
Nur langsam, wenige hundert Kilometer südlich des Ausgangshafens für unsere Bootstour beginnt sich der grüne Teppich unberührter Primärwälder wieder an die mächtigen Flussläufe zu schmiegen, die sich wie Regenbogenschlangen über den Kontinent ziehen. Erschreckend die Begegnung mit der Bedrohung der artenreichsten Landschaft des Planeten, deren wahre Bedeutung für die Menschheit erst langsam von der Wissenschaft erforscht wird. Jener Wasserspeicher der Erde, in dem ein Fünftel unseres Süßwassers zirkuliert, von dessen geschätzten fünf bis 30 Millionen unterschiedlichen Pflanzengattungen gerade erst 30.000 identifiziert sind, in dem ein Drittel der bis heute bekannten Insektenarten endemisch ist, aus dem bereits heute 25 Prozent der Wirkstoffe der modernen Pharmazeutika stammen; bedroht, ausgebeutet, zerstört durch Brandrodung, industrielle Plantagen, Rinderfarmen, Staudämme, Gold- und Minenprojekte, die immer weiter in das Herzland des Waldes vordringen, auch vor Indianerreservaten und geschützten Waldreserven nicht halt machen. Zerstörungen, die nicht nur das sensible Gleichgewicht der Region stören, sondern weitreichende Auswirkungen auf das Weltklima haben.
Weniger erschreckend und auch um einiges harmloser die Begegnung mit den Urängsten der eigenen Psyche im zivilisationsfernen Dschungel - auf mehrstündigen Wanderungen über lehmigen Boden und modernde Blätter, kleine Bachläufe und große Baumstämme, die sich quer über den fiktiven, soeben von Machete und Beil geschlagenen Weg breiten. Eine Wanderung durch ein Halbschattenreich, feucht, Stimmen- und Klangerfüllt, einförmig und doch stets anders in seiner unüberschaubaren Vielfalt an Kräutern und Sträuchern und Lianen und Epiphyten und Farnen, die sich lückenlos das wenige Licht aufteilen, das durch die mächtigen Baumkronen der 30 bis 50 m hohen Urwaldbäume bis zum Boden vordringt. Bergauf, bachab - Vorsicht - nicht abstützen - besser im Lehm auszurutschen, als sich am Stamm einer Stachelpalme festzuhalten, deren pilzüberzogene, stachelübersäte Rinde eher an einen Seeigel als an einen Baum erinnert.
Weiter, noch ist das Lager fern, noch gilt es zwei Bäche zu überwinden, bevor wir jenen Wasserfall erreichen, an dem wir unsere erste Dschungel-Nacht verbringen wollen. Werden. Sollen. Nass. Triefnass im Regenwald. Schweißnass. Luftfeuchtigkeits-nass. Regennass. Kaum im Lager - bestehend aus mehreren umgestürzten Baumstämmen, die morsches Zeugnis davon geben, dass schon vor uns Menschen an dieser Stelle versucht haben, dem Dschungel für eine Nacht eine Nische abzutrotzen - angekommen, macht der Regenwald seinem Namen Ehre und lässt es regnen, heftig, sehr heftig, wenngleich nur kurz, wenngleich sehr warm und weich. Doch heftig.
Rucksäcke unter die Regenplane legen, Hängematten-Lager aufbauen, Feuerstelle einrichten, Cachaça ausgießen - brasilianischer Zuckerrohrschnaps, mit Orangenspalten verdünnt, versüßt - unerlässlicher Einstieg in die zwölf Stunden währende Tropennacht. Begegnung mit den archaischen, zivilisationsüberlagerten Ängsten der Psyche vor der Wildnis, Ausgesetztheit - und ihre Überwindung in der Begegnung mit zwei Vertretern des Indiostammes der Tukano - einige Tage später auf einem Dschungellehrpfad durch den Urwald. Auf einem Seelenlehrpfad zur Wiedergewinnung der gestörten Einheit mit der Natur. Zwei bereits akkulturierte Angehörige eines Volkes, dem es über Jahrtausende gelang, in Harmonie mit der Natur, von der Natur zu leben, bis es der "zivilisierten" weißen Rasse zum Opfer fiel, die die Zahl der vor 500 Jahren fünf Millionen Indios auf heute noch rund 300.000 reduzierte. Begegnung mit den Angehörigen einer bedrohten Kultur, die für die Vertreter der westlichen Welt eine wichtige, eine überlebenswichtige Botschaft bereithält: "Wir Menschen des Waldes halten die Erinnerung an die Erschaffung der Welt und das Wissen um die fundamentalen Grundsätze des Lebens aufrecht. Wir fühlen, dass wir die so genannte Zivilisation davon abhalten müssen, die Natur zu zerstören. Wir wollen einen wundervollen Wald in den Herzen der Stadtmenschen errichten, um ihren Geist zu befrieden, damit sie wieder fähig werden, im Einklang mit der Natur zu leben." (Aílton Krenak, Alliance of the Forest People).
Damit wir wieder fähig werden, im Einklang mit der Natur zu leben. Und mit uns selbst. Begegnungen mit Amazonien, in Amazonien - mit der noch nicht verwirklichten, schon immer verwirklichten Möglichkeit zur Rückkehr in die Einheit - mit der Natur, mit dem so genannten Fremden, mit den Kräften der eigenen Seele.