"Wir wollen in diesem Wald leben"
Amazonien: Paradigmenwechsel im Kampf um das letzte große Regenwaldgebiet der Erde
(Wiener Zeitung, 18.04.2002)
Ein heftiger Ruck - die Guaranádose kippt, süsser Saft fließt über Deck, die Hängematte schlägt heftig gegen den nahestehenden Tisch, der lesende Hängematteninhalt - in diesem Fall die Autorin dieses Textes, zum Zeitpunkt der unsanften Hängemattenschleuderbewegung soeben in die philosophisch weisen Worte des Yanomami-Führers Daví Kopenawa versunken - wird unerwartet aus der Schwebebewegung auf den harten Boden der Tatsachen geworfen. Gestrandet - wieder einmal -, aufgelaufen, glücklicherweise nur auf einer Sandbank, weiter oben, bei der Felsen-reichen Einmündung des Rio Branco oder gar bei den Stromschnellen auf dem letzten Drittel der Reise vor Sao Gabriel da Cachoeira könnten derartige "Bodenberührungen" unseres Schiffes bedenklichere Folgen haben.
Rio Negro zur Zeit der seca, der Trockenperiode. Niedrigwasser in einem Flusssystem, dessen Wasserstand zwischen Regen- und Trockenzeit um 12m variiert. Ein Wasser-Waldsystem, das in seiner Einzigartigkeit zwar gerne als Gen-Schatzkammer der Erde, als letzte Lunge des Planeten etikettiert wird, de facto aber immer weiter zerstört, abgebrannt, abgeholzt wird, überflutet durch riesige Staudammprojekte, ausgebeutet auf der Suche nach Bodenschätzen, Gold, Erzen und Aluminium. So weit - leider - nichts Neues - auch wenn dieser Tage neue brasilianische Gesetzesentwürfe effizienteren Schutz für den brasilianischen Regenwald versprechen.
80 Prozent der Rodungen und Brandlegungen waren schon bisher illegal und es ist zu befürchten, dass flächendeckende Überwachungsmaßnahmen aufgrund der immensen geographischen Ausdehnung der amazonischen Bundesstaaten noch einige Zeit auf sich warten lassen werden. Dennoch gibt es Neuigkeiten, einen zartroten, boto-farbenen Hoffnungsstreifen am Horizont des Regenwaldes. Rosafarben wie die Haut der glücksbringenden amazonischen Flussdelphine - der botos. Ein sehr realer Hoffnungsschimmer für die Rettung dieser einzigartigen Landschaft - im immer lauter und unüberhörbar werdenden Aufschrei der indigenen Völker dieses Landes. Kayapo und Deni, Yanomami und Tukano, Baniwa und Desana…
170 Ethnien, viele davon bereits in indigenen Dachverbänden zusammengeschlossen, Menschen, die ihre Vernichtung, Vertreibung, Entrechtung, die Zerstörung ihres Lebensraumes und ihrer Kultur nicht länger hinnehmen. Menschen, die sich von der staatlichen Indianer-"Schutzbehörde" unter weisser Führung - FUNAI - nicht länger entmündigen lassen. Indígenas, UreinwohnerInnen eines Landes, dessen unermesslicher natürlicher Reichtum am wenigsten seine ursprünglichen BewohnerInnen zugute kommt.
Gelandet in Sao Gabriel, 1000 Flusskilometer nordwestlich von Manaus, dort, wo sich mächtige Felsen dem teefarbenen Fluss entgegenbringen, ihn aufwühlen, in champagnerfarbenen Wirbeln seine Fluten an der Stadt vorbeijagen, bis sich die Wirbel wieder legen, die dunkle Teefarbe Oberhand gewinnt über die Champagnerwirbel, der Fluss sich beruhigt, vorübergehend gezähmt seiner weiten Reise durch den Dschungel entgegenfliesst, um schließlich 1000km weiter südlich, knapp nach Manaus dem Rio Solimoes, dem lehmfarbigen Weisswasserfluss zu begegnen, mit ihm zu verschmelzen, um endlich unter dem Namen Amazonas dem fernen Atlantik zuzuströmen.
Sao Gabriel: Stromschnellen, Militärbasen - und Sitz der vielbeachteten indigenen Organisation F.O.I.R.N. (Federacao das Organizacoes Indígenas do Rio Negro), von den indigenen Völkern des Mittleren und Oberen Rio Negro ins Leben gerufen mit dem Ziel, eine offizielle Vertretung ihrer Anliegen im Kampf um die Demarkierung ihrer Gebiete, um die so häufig missachtete Wahrung ihrer Rechte, um die Anerkennung ihrer Kultur und ethnischen Vielfalt innerhalb der demokratischen Gesellschaft zu gründen.
Domingos, Vize-Präsident der Vereinigung, heisst uns willkommen, führt uns durch die maloca, das indianische Gemeinschaftshaus, das in das Bürohaus integriert wurde, von reisenden Indígenas aus der Region auch gerne als Gästehaus verwendet, erzählt von den Anliegen und Bemühungen der Organisation.
Wie schon zuvor in Manaus, beim Dachverband COIAB der indigenen Völker und Organisationen von Amazonia Legal, einem Gebiet, das acht brasilianische Bundesstaaten umfasst, erfahren wird, dass sich die Organisation neben der Wahrung der Rechte der Indígenas vorrangig auch um die Bereiche Gesundheitswesen, medizinische Versorgung, Umweltschutz und indigenes Schulwesen kümmert.
Doch die Mittel sind rar, finanzielle Unterstützung wäre dringend erforderlich. Unterstützung auch seitens der Regierungen jener Länder, die indirekt und direkt noch immer an der Zerstörung des Regenwaldes mitwirken, auch vor Raubbau innerhalb indigenen Gebiete nicht zurückschrecken.
Die Agenda von Domingos, Angehöriger des Tukano-Volkes, unterscheidet sich kaum von den Terminplänen stressgeplagter europäischer NGO-Mitarbeiter: am nächsten Tag eine ganztägige Sitzung mit der Polizeibehörde zur Ausstellung von über 1000 Identitätsausweisen in der maloca, gefolgt von einer mehrtägigen Fahrt im Schnellboot in das weitverzweigte Flusssystem zu den Ansiedlungen nördlich von Sao Gabriel. Nach der Rückkehr Reisen Richtung Manaus und Brasilia.
Nach dem Aufschrei der indigenen Völker am 22. April 2000 anlässlich der Gegenkonferenz zu den offiziellen 500-Jahr-Feierlichkeiten Brasiliens, die noch immer unter dem kolonialistischen Gesichtspunkt der "Entdeckung" des Landes stattfanden, ohne Rücksichtnahme auf die historische Wahrheit, dass Brasilien, so wie der gesamte amerikanische Kontinent schon Jahrtausende vor der Ankunft der Europäer von zahlreichen indigenen Völkern und Kulturen bewohnt war, verschafft sich die Stimme der Indigenen langsam Gehör.
Nicht dass die fortgesetzte Vertreibung der Indianer aus ihren Gebieten durch Großgrundbesitzer, das Einschleppen von Krankheiten gegen die Indigene keine Abwehrkräfte besitzen, endlich vorüber wäre, nicht, dass die Demarkation aller indigenen Gebiete bereits erfolgt wäre, endlich auch in der realen gesellschaftlichen Situation die indigenen Kulturen als gleichberechtigt behandelt würden - nein, noch nicht, aber die Stimme der UreinwohnerInnen dieses Landes wird stärker und mit dem wachsenden Einfluss ihrer offiziellen Vertretungen wächst auch die Hoffnung auf die Rettung des letzten großen Regenwaldes der Erde.
Denn das Ziel der BewohnerInnen dieses Waldes ist es nicht, den Wald auszubeuten und zu zerstören, sondern ihn lebendig und rein zu erhalten, auf dass er auch in Zukunft ihren Nachfahren als Heimat dienen möge. Als Heimat für ihre Dörfer und Gemeinschaften, aber auch als Quelle der Inspiration und Spiritualität - "als ich die Länder der Weißen bereiste, wurde ich sehr unruhig… sie haben ihre Wälder gerodet, ihre Flüsse vergiftet, Häuser, Strassen und Städte gebaut… der Lärm in diesen Städten nimmt auch in der Nacht kein Ende… der Geist verdunkelt sich… wir jedoch, wir wollen, dass unser Wald unberührt bleibt, so wie er immer war… wir wollen in diesem Wald leben von Jagd und Fischfang und mit den Geistern, der lebendigen Essenz aller Lebewesen, tanzen… wir bauen nur die Pflanzen an, die wir als Nahrungsmittel benötigen, wir wollen keine Fabriken, keine Löcher in der Erde, keine vergifteten Flüsse. Wir wollen, dass unser Wald still bleibt, der Himmel klar, sodass man in der Nacht die Sterne sehen kann. Doch es wird nicht mehr lange dauern, bis sich die Weißen unserem Land nähern… die Weißen sind sehr einfallsreich - sie haben viele Maschinen erfunden, doch sie haben dabei ihre Spiritualität eingebüßt. Sie sind auf ihre Waren fixiert, als wären diese ihre Geliebten."
Wie zur Bestätigung dieser Worte des Yanomami-Führers Daví Kopenawa las man vor kurzem in einer österreichischen Tageszeitung ein Zitat von Francis Lustig, Vorstand des Elektrokonzerns Cosmos: "ein DVD-Player ist einfach sexy, auch eine Espresso-Maschine hat einen gewissen Sex", und der Konsumentenschützer Karl Kohlmann fügt hinzu "Die Österreicher sind vernarrt in Konsumtechnik".
Vielleicht ist es an der Zeit, die verliebten Blicke von den Maschinen ab- und dem lebendigen Wald, dem eigenen ebenso wie dem weit entfernten, zuzuwenden. Ungewohnte, berührende, lebensnotwendig Erfahrungen warten auf uns und die Indigenen Brasiliens werden uns bei diesen Neuentdeckungen wichtige Lehrmeister sein, unter der Bedingung, dass wir sie dabei unterstützen, ihr Wissen, ihre Kultur und somit auch ihren Wald, den amazonischen Regenwald vor fremden Übergriffen zu bewahren und zu schützen, in ihrem - und unser aller Interesse.
(Kontakt: Coiab/Coica Manaus: coica-dh@buriti.com.br)
Dorothea Nürnberg ist Schriftstellerin in Wien. Zuletzt in Kooperation mit HORIZONT3000 und Klimabündnis Österreich erschienen: "…heimgekehrt unter das kreuz des südens. Impressionen aus dem Regenwald." Haymon Verlag, März 2002