Und sie lebt doch, DIE POESIE!
Die Furche 15. März 2018FEUILLETON/Literatur
Internationale Lyrikfestivals verleihen der Poesie Flügel und verbinden Lyrikerinnen und Lyriker über die Kontinente hinweg, auch politisch.
Von Dorothea Nürnberg
Als Arthur Rimbaud die Dichter mit Prometheus verglich, galt die Lyrik noch unumstritten als Königsdisziplin der Literatur. Heute, rund 150 Jahre später, wird Lyrik von Verlegern und Buchhändlern oft als schwer verkäuflich und nicht markttauglich deklariert. Dennoch feiert die Poesie auf allen Kontinenten fulminante Feste, die Dichterinnen und Dichter in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rücken.
Lyrik lässt sich durch das Diktat des Marktes nicht besiegen, verbindet die Diebe des Feuers über Kontinente hinweg, eint sie im Kampf gegen gesellschaftliche und politische Missstände ebenso wie im Versuch, der „Prosa“ des Lebens Flügel zu verleihen.Internationale Lyrikfestivals gibt es in Bhubaneswar/Indien und in Dakar/Senegal, in Sydney/Australien und in Trois-Rivières/Kanada, in Chile, Nicaragua und Spanien. In Basel und Berlin. In Buenos Aires und La Paz, in Mexiko, Chile und Brasilien.
„Vibration der Seele“
Pablo Neruda nannte die Poesie einen „Akt des Friedens“, Gioconda Belli sprach von einer „Vibration der Seele“: In Lateinamerika pulst das Herz der Poesie besonders vielfältig, vibriert die Seele im Takt von Milonga und Tango beim Festival Internacional de Poesía in Buenos Aires. Die erste Impression, die sich im Juni des vergangenen Jahres nach vierzehn-stündigem Flug von Frankfurt nach Buenos Aires nachhaltig in die Erinnerung einprägte: Lyrikerinnen und Lyriker aus drei Kontinenten, Gedichte rezitierend mit einem Megaphon in der Hand in den Markthallen der Stadt. Poesie im Mercado zwischen Gemüse- und Obstständen, zwischen Fleisch- und Fischhändlern. Auch Blumen. Der Klang des Megaphons ist hart, verzerrt die Stimmen der Dichter, die sich langsam, großteils noch vom Jet-Lag gezeichnet, der letzten Station der lyrischen Reise durch den „Bauch von Buenos Aires“ nähern: argentinischer Rotwein, Empanadas und andere Leckereien. Man lernt einander kennen. Aleyda Quevedo Rojas und ihr Mann Edwin Madrid, zwei bekannte Lyriker aus Ecuador, erzählen von ihrer Heimatstadt, von Quito, dem Vulkan und der Liebe zur Poesie. Dichter zu sein bedeutet mehr als “nur“ Gedichte zu verfassen, Dichtersein ist eine Lebenshaltung, ein Lebensstil. Ein Weltbild.
Lello Voce aus Italien, umtriebiger Performer, erzählt von seinen zahlreichen Reisen rund um den Globus im Zeichen der Poesie.
Am Abend trifft man einander wieder, im argentinischen Schriftstellerverband. Alle Gäste des Festivals lesen in ihrer Muttersprache, die südamerikanischen Kollegen lesen die spanische Übersetzung. Bis spät in die Nacht erklingen die Stimmen der Dichter, inspiriert von der Fülle der Themen tauscht man Ideen aus: Louise Desjardins aus Kanada und Geneviève Huttin aus Paris, Anja Golob aus Slowenien, Helena Sinervo aus Finnland und Aleilton Fonseca aus Brasilien. Die Nacht ist weit fortgeschritten, man plant im Namen der Teilnehmer des Festivals eine Petition gegen Donald Trumps Umweltpolitik zu unterzeichnen. Leider gerät jene Idee aufgrund der Fülle der Veranstaltungen der kommenden Tage in Vergessenheit.
Das argentinische Festival hat zum Ziel, die Verbreitung und Entstehung von Lyrik zu fördern, einen internationalen Austausch zu gewährleisten, die jeweils neuesten Entwicklungen im Bereich der Poesie aufzeigen. Festival Internacional de Poesía ist Teil der „Internationalen Schule für Dichtung“ und Mitbegründer des „World Poetry Movement“.
Gemeinsam mit Graciela Perosio aus Argentinien und Elbio Chitaro aus Uruguay halten wir Poesieunterricht in einem Gymnasium der Stadt. Noch vor der Abreise aus Wien hatte Festivalleiterin Graciela Araóz darum gebeten, landestypische Süßigkeiten für die Kinder mitzubringen. Beladen mit Schokolade und Mozartkugeln steigen wir vor dem Gymnasium aus dem Taxi. Gegenüber der Schule: ein Milka Geschäft!
Das Interesse der Schüler ist dennoch enorm, sowohl an der Schokolade, als auch an Lyrik.
Dass Poesie sinnlich ist, viel mit Genuss zu tun hat, zeigt auch das originelle Veranstaltungsprogramm des Festival International de la Poésie de Trois-Rivières/Quebèc. Im Rahmen des zehntägigen Festivals, das auch wichtige Literaturpreise vergibt, werden Poesie-Picknicks abgehalten, Poesie-Dinner und Poesie-Aperitif-Sessions angeboten. Haiku-Lesungen in Konditoreien. Törtchen und Poesie. Poesie-Spaziergänge. Scotch und Poesie. Auch in Kanada ist die Analyse aktueller poetischer Strömungen und Entwicklungen Teil des Programms.
„Das mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnete Festival Internacional de Poesía Medellín setzt sich seit seiner Gründung 1991 aktiv für den Friedensprozess in Kolumbien ein.“
Ganz anders die Stimmung anlässlich der neunten Ausgabe des International Istanbul Poetry and Literature Festival im September 2016.
Das brutale Vorgehen des Regimes gegen Intellektuelle, Autoren, Verleger und Journalisten ließ jenes Literaturfest, das sich als „unabhängig“ versteht, zu einer Solidaritätskundgebung der nicht-türkischen Autoren für die türkischen Kollegen werden. Aus Europa, Asien und Australien waren ua. Jason Goodwin, Drago Jančar, Philip Hammial und Éric Sadin angereist. Auch die kurz zuvor verübten Terroranschläge trübten die Stimmung. Wenngleich auch in Istanbul die Poesie an originellen Schauplätzen „in Szene“ gesetzt wurde: Lesungen in der spätantiken Zisterne der Stadt, in Bibliotheken und auf einem Ausflugsschiff auf dem Bosporus. Möwen und der Blick nach Asien. Am Vortag hatte der türkische Autor Haydar Ergülen berichtet, dass sein Kollege – eben erst Vater geworden – verhaftet wurde. Der gemeinsame Appell vor Journalisten und laufender Kamera in der Buchhandlung Mephisto im Zentrum der Stadt, die Freiheit des Wortes zu respektieren und die inhaftierten Autoren freizulassen, hinterließ ein Gefühl der Unruhe.
Dichterinnen und Dichter im Einsatz für Meinungsfreiheit, die Rechte der Frau und globalen Frieden. Gegen Xenophobie und Rassismus.
Politik und Poesie
Das jährlich stattfindende Festival Internacional de Poesía Medellín, das größte und weltweit bekannteste Lyrikfestival, setzt sich seit seiner Gründung im Jahr 1991 aktiv für den Friedensprozess in Kolumbien ein. 2006 wurde das Festival mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. 2018 steht das Lyrikfest unter dem Motto „Indigenes Amerika“. Dichter und Schamanen der indigenen Völker sind eingeladen, gemeinsam mit internationalen Gästen ein Fest der Poesie im Zeichen des Friedens mit Mutter Erde, der Natur und allen Bewusstseinsträgern dieses Planeten zu feiern.
Doch der Einsatz für Minderheiten ist gefährlich, die Zielrichtungen von Politik und Poesie nicht immer vereinbar.
Vor wenigen Wochen geriet das Festival in Schwierigkeiten, da das kolumbianische Kulturministerium die Subventionen einstellte. Dank einer internationalen Woge der Solidarität konnte für dieses Jahr ein anderer Geldgeber gefunden werden, doch die Zukunft des Festivals ist ungewiss.
Internationale Lyrikfestivals kreieren ein globales Netzwerk, stärken die Verbundenheit zwischen Dichterinnen und Dichtern. Der künstlerische Dialog zwischen den Kulturen setzt ungeahnte Kreativität frei, wahrt die Bedeutung der Lyrik als Existenz-erschließende Kunst, auch als politisches Medium im Dienst der Menschenrechte.
Die Autorin lebt als Schriftstellerin in Wien