Dorothea Nürnberg

Beitrag zur Anthologie
Bunte Steine frisch gefärbelt

Edition Pen 2015


Dorothea Nürnberg

Einmal Regenbogen – und retour

Eine Schale aus Granit, gefüllt mit Edelsteinen, mitten im Wald, im Schnee. Nur durch Zufall war Carla darauf gestoßen, nur durch Zufall war sie an jenem Nachmittag überhaupt zu einem Spaziergang aufgebrochen. Und sie hatte die Steine mitgenommen, unbeobachtet, nur für eine Nacht, für diese Nacht.
Der erste Weg in ihrer Wohnung hatte sie ins Wohnzimmer geführt, wo sie die Steine sorgsam auf den runden Tisch legte, der ihr als Ess– und Arbeitstisch diente. Ein Regenbogen an Farben, Stimmungen, Energien floss über den alten Nusstisch, eine Spektralfarben-Symphonie, zart, kostbar, vertraut.
Der geheimnisvolle Schimmer des Rosenquarz, Stein der zarten Liebe und Harmonie, die vielschichtige Tiefe des Amethyst, Beruhigung und Klärung verströmend, der Türkis in seiner runden Lebensfreude, Zitrin, die innere Sonne, Topaz, himmelblauer Stein des Selbstvertrauens, die spitzen Zacken des Bergkristalls, die Kraft und Licht schenken, kleine Rubine, ungeschliffen, Lebenskraft und ewige Liebe und schließlich die Rohsmaragde, in kraftvoller Einheit mit der Natur. Carla kannte die vieldeutigen Eigenschaften edler Steine, hatte doch ihr Vater, ein gelehrter Mineraloge, stets Exemplare der unterschiedlichsten Edelsteine in der Vitrine in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt. Als er vor wenigen Jahren hochbetagt starb, war jedoch die Steinsammlung, das Edelsteinköfferchen ebenso wie sein Siegelring plötzlich verschwunden. Weder Carla noch ihr Bruder wussten, ob der schon lange verwitwete Vater die Steine einer neuen Dame seines Herzens geschenkt hatte, ob sie verloren, gestohlen, verlegt worden waren - sie blieben unauffindbar. Und Carla, die nie genug Geld besessen hatte, um sich den Traum von Schmuck, Edelsteinen, Heilsteinen zu erfüllen, auch niemals von ihrem Mann und Vater ihrer Kinder ein Schmuckstück geschenkt bekommen hatte, abgesehen von dem dünnen schmalen Fingerreif, der ihre unglückliche Ehe für wenige Jahre besiegelt hatte, war der letzten Hoffnung beraubt, ihr Leben mit dem Zauber der bunten, strahlenden Geheimnisse der Erde, des Lichtes zu versüßen.
Und nun lag plötzlich ein leuchtendes Edelsteinbouquet vor ihren Augen, gerade so, als hätte ihr jemand ein verspätetes Weihnachtsgeschenk, ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk machen wollen, eine Fee, eine Nymphe, ein Engel?
Ja, für diese eine Nacht wollte Carla sich ihrer Phantasie, ihren Träumen anvertrauen, enthoben der Schwere des Alltags auf den Kostbarkeiten ihre Seelenflügel breiten.
Nachdem sie jeden Stein eine Zeit lang in der Hand gehalten, betrachtet hatte, legte sie sich auf das Sofa, ruhte ein wenig, griff erneut nach den Steinen, legte sie nacheinander auf ihr Herzchakra. Sie schloss die Augen, wartete darauf, dass jene Materie-gewordenen Energieformen zu ihr sprachen, genau so, wie sie es einst im Hause ihres Vaters erfahren hatte, jenes Spiel mit den sprechenden Steinen. Mein Gott - wie viele Jahrzehnte lag dies zurück! Dennoch hatte sie nicht vergessen, dass sie damals, wohl im Alter von acht Jahren, einen großen Bergkristallkegel, den sie auf dem Schreibtisch des Vaters gesehen hatte, mit in ihr Bett genommen, ihn auf ihre Stirn gelegt hatte und darüber eingeschlafen war. Plötzlich jedoch war sie durch ein Bild in ihrem Kopf aufgeschreckt: ein mächtiges Lichtwesen hatte sich vor ihrer Stirn gezeigt, ein Wesen, das aussah wie die Engel in ihren Kinderbüchern. Hinter diesem Wesen waren Umrisse eines Berges zu erkennen, blauer Himmel und ein gold-weisses Funkeln. Carla schreckte mit einem lauten Schrei auf, der Kristall fiel zu Boden, sprang in der Mitte entzwei und Carla brach in heftiges Weinen aus, bis ihre Mutter ins Zimmer gelaufen kam und das Mädchen liebevoll beruhigte.

Ihr Vater hatte diese Erfahrung einst mit Gelassenheit kommentiert: Nichts Aussergewöhnliches, jeder Heilstein, jeder Kristall habe einen gewissen Grad an Bewusstheit, wäre mit zahlreichen höheren Bewusstseinsträgern in Verbindung. Dies sei eine seit Jahrtausenden in beinahe allen alten Kulturen bekannte Tatsache. Selbst im christlichen Kulturkreis hätte man in der Offenbarung des Johannes eine großartige Edelsteinkunde vorliegen.

Was auch immer diese rätselhafte Aussage bedeuten sollte, beinahe fünf Jahrzehnte später wollte Carla wissen, welch rätselhaftes Bewusstsein sich möglicherweise hinter diesen schimmernden, schillernden Oberflächen verbarg. Allerdings wagte Carla nicht, die Steine auf die Stirn zu legen, die Herzgegend erschien ihr sicherer.
Der Rosenquarz erfüllte sie mit einer gewissen Heiterkeit, der Türkis gab keinerlei Sensation preis, die Smaragde und Rubine erfüllten ihre Aura mit Energie, Leichtigkeit, der blaue Topaz gab ihr das Gefühl von Schutz, Geborgenheit. Es war bereits drei Uhr morgens und Carlas Forschergeist wurde von zunehmender Müdigkeit abgeschwächt. Als sie schließlich den Bergkristall mit der Spitze nach unten auf ihr Herz legte, vernahm sie jedoch augenblicklich eine starke Sensation, ein Prickeln, das einen Energiefluss anzeigte. Und plötzlich, sie wusste nicht warum, brach eine Woge der Trauer aus ihr, Tränen liefen über ihr Gesicht und heftiges Schluchzen ließ ihren Körper erzittern. Jahre voll stillem Schmerz, Enttäuschung, Kummer schienen sich unvermittelt Bahn zu brechen, auszubrechen aus den Tiefen ihres verkrampften, einsamen Herzens, das sich zu reinigen, weiten suchte. Und noch während Carlas Schluchzen langsam in stilles Weinen überging, hatte sie plötzlich eine wunderbare Vision: Carla lag auf einer Wiese, vor ihr ein Vulkankegel, mächtig und groß gegen einen tiefblauen Himmel ragend, eine unbekannte Gegend und dennoch wusste Carla intuitiv, dass es sich um einen Ort in den peruanischen Anden handelte, auch wenn sie selbst niemals dort gewesen war. Ein wundervolles Hochplateau, strahlendes Licht und Gefühle von tiefer Liebe, Geborgenheit, wie sie Carla in ihrem bisherigen Leben nie zuvor empfunden hatte. Carla verschmolz mit dem Berg, der Erde, dem Himmel, fühlte sich emporgehoben zu den Sternen und gleichzeitig zum ersten Mal wirklich verankert in ihrem eigenen Sein. Bedingungslose Liebe umgab sie, umhüllte sie und Carla erstrahlte in Glückseligkeit.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, der Stein lag noch immer auf ihrem Herzen, konnte sie sich an jedes Detail ihrer Vision erinnern. Auch jene tiefe Liebe war noch immer in ihrem Herzen spürbar, ein Gefühl, das all den Kummer, all die Enttäuschungen ihres Lebens ausgelöscht, geheilt hatte.
Nur um eines ging es in diesem Leben, Carla konnte plötzlich ganz klar sehen: jedes Lebewesen, das ganze Sein bedingungslos zu lieben.