Dorothea Nürnberg

Schauplatz Brasilien: Die Töchter und Söhne des Guaraná


Urwald-Begegnungen jenseits des 500-Jahr-Jubiläums
(Neue Zürcher Zeitung, 27.12.2000)

Mit grossem Aufwand sind im April die Feiern zum 500-Jahr-Jubiläum der «Entdeckung» Brasiliens begangen worden. Über dem Gedenken an den damaligen «Zivilisationsschub» ist die Wahrnehmung der indigenen Völker Amazoniens, die noch heute Objekt dieser «Zivilisierung» sind, in den Hintergrund geraten. Sie kämpfen gegen die Zerstörung ihrer natürlichen Umwelt und damit um das Überleben ihrer Kultur.

«Tai wacu - wacu sesso.» Der alte Häuptling der Sateré-Maué-Indianer erhebt sich, lächelt, streckt uns seine faltige Hand entgegen, murmelt höfliche Willkommensworte, setzt sich im Gästehaus auf die Holzbank, blickt auf den Tisch, schweigt. Gemeinsames Schweigen, Stille. Fernes Blätterrauschen des tropischen Regenwaldes, nahes Kichern neugieriger Kinder, lautloses Staunen eines Faultierbabys, festgeklammert an dem Hemdchen eines Indiomädchens. Gemeinsames Schweigen. Und Lächeln. Momente, zweck- und sinnbefreit. Unter dem tropischen Palmendach inmitten der amazonischen floresta. Weit entfernt von Mauès, dem Ausgangspunkt unserer Schiffsexpedition in das Reservat der Sateré-Maué-Indios, noch weiter entfernt von Manaus, der einstmals blühenden Kautschukstadt, unendlich weit entfernt von Beton und Verkehr, Kaufen und Handeln. Nahe am Puls Amazoniens - Fluss und Himmel, Sonne und Regenwald.

Der Häuptling schaut auf den sandigen Boden, die Häuptlingsfrau baumelt in der Hängematte, unser indigener Führer aus Mauès - Barrô, ein unersetzlicher Mittler zwischen den Welten - beginnt ein Gespräch, um den neugierig schweigenden Europäern den Einstieg in die Welt indigenen Gedanken zu erleichtern. Fragen nach der Guaraná-Ernte, nach Jagd und Fischfang, nach Schule und Brauchtum schwirren in Sateré-Maué gefärbtem Portugiesisch über den Tisch, während sapô, das Guaraná-Willkommensgetränk, gereicht wird. Guaraná - Zauberwort in der reserva, das ist Heilmittel, Lebens- und Liebeselixier. Mittlerweile hat es in zahlreichen Verformungen die Welt erobert, sein Ursprung jedoch liegt bei jenem amazonischen Indianerstamm, der Ziel unserer Reise in die indigenen Welten Brasiliens ist.

Sorge um die Tradition
Sapô - ausnahmsweise nicht mit Flusswasser zubereitet, da das Dorf Nova Esperança am Eingang des Reservats über einen Tiefbrunnen ebenso wie über einen Generator verfügt. Die Kalebassenschale wandert von Mund zu Mund, langsam, schweigend wird das bitter schmeckende, belebende Pulver-Wasser-Gemisch getrunken, der Häuptling lächelt, bevor er die Fragen Barrôs beantwortet: Christen, ja Christen seien alle hier, aber deswegen hätten sie ihre Kultur nicht abgelegt, nein, nur die Kämpfe, die blutigen Kriege untereinander hätten aufgehört. Das Gute ihrer Kultur, die Tänze und Gesänge, die Sprache hätten sie bewahrt. Grossteils. Doch ist da auch die Sorge um die Bewahrung der alten Traditionen: Kunsthandwerk, das Wissen um Heilkräuter und Rezepturen, die Kenntnis der spirituellen Rituale. Die jungen, Portugiesisch und Sateré-Maué sprechenden Stammesmitglieder sehen gerne fern und begeistern sich für Fußball…

Das Faultierbaby löst langsam die linke Vorderpfote vom Hemdchen des Indiomädchens, greift bedächtig nach einem Baobab-Blatt, das zwischen den Fingern des Mädchens zusammengeknüllt als Nahrung für das kleine Haustier wartet. «Ein ideales Symbol für Frieden», meint Barrô - das Faultier greift niemals an, ist niemals aggressiv, selbst in der Verteidigung. Frieden, ein häufig verwendetes Wort im Wortschatz des indigenen Führers: Frieden mit der Natur, Frieden mit der Erde, in Frieden leben mit Wald und Fluss. Nicht auf Ausbeutung und Gewinnmaximierung ist der indianische Umgang mit der Natur ausgerichtet, sondern auf ein Leben im Gleichklang. «Wir sind Teil dieser Erde, sie gehört uns nicht, daher kann auch niemand Land ‹besitzen›, das Land, die Erde ist immer nur Leihgabe»: so das alte indianische Seinsverständnis, welches von weissen Wirtschaftsinteressen häufig in katastrophalem Ausmass missachtet wird.

Die Tropensonne nähert sich langsam der Waldgrenze, wirft das Bild der mächtigen weissen Urwaldbäume in die schwarzen, glasklar spiegelnden Wasser eines Seitenarmes des Rio Mauès. Der Häuptling von Nova Esperança erhebt sich zur Verabschiedung, «bestellt» für unseren nächsten Besuch einen Aussenbordmotor für sein Boot und gibt den Weissen in indigener Begleitung einen guten Rat mit auf die Tour: Vorsicht in den Gewässern rund um Santa Maria - zu viele weisse Piranhas könnten die Freude am täglichen Flussbad trüben. Wir verlassen das Dorf, kehren zurück an Bord unseres kleinen Expeditionsbootes, das eine friedliche, fluchtwillige Vogelspinne in Beschlag genommen hat, geniessen auf der Fahrt die von unserem Bordkoch fachmännisch zubereitete Caipirinha. Während der Tropentag die Tropennacht umarmt, singt Barrô indianische Lieder, von den Mythen des Regenwaldes, den Ursprüngen der «Söhne und Töchter der Sonne», aber auch von den Schrecken der Gegenwart: «Amazônia, terra grande - der Weisse weint, der Indio weint - Amazonien brennt…»

Amazonien brennt, wird abgeholzt und vergiftet - durch Quecksilber in den Flüssen, durch Bergbau und Goldsucher. Amazonien, dieses einzigartige Ökosystem, Heimat zahlreicher stark dezimierter Indiostämme, ungeahnter Pflanzen- und Artenfülle kämpft ums Überleben. Die Versammlung der Indiostämme im April dieses Jahres anlässlich der 500-Jahr-Feierlichkeiten der Entdeckung Brasiliens in Porto Seguro war ein einziger lauter Aufschrei. Gemeinsam mit Vertretern des Indianermissionsrats suchten die Häuptlinge die Öffentlichkeit auf ihre Bedrohung durch kurzsichtige Wirtschaftsinteressen und die Verletzung ihrer Menschenrechte aufmerksam zu machen - mit dem «Erfolg», dass eine friedliche Kundgebung von der Militärpolizei niedergeknüppelt und mit Tränengas aufgelöst wurde. Nur wenige Weisse stimmten in den Protest ein, etwa der aus Vorarlberg stammende Bischof der Diözese Xingu, Erwin Kräutler. Die mahnenden Stimmen wiegen wenig im Vergleich zu den Interessen internationaler Konzerne. Planierung und Brandrodung dringen immer weiter vor in geschützte Gebiete, sie machen auch vor demarkierten Indioreservaten nicht Halt.

Amazonien brennt - nicht überall, glücklicherweise. Auch nicht in Curuatuba, dem abgelegensten Dorf unserer Tour. Fünf Stunden Beibootfahrt durch den überfluteten Wald, gefolgt von längerem Marsch durch die Plantagen und teilweise überfluteten Wald rund um das Dorf, um schliesslich auf einer kleinen Hochebene mit Palmhütten, Fussballfeld und elektrischer Beleuchtung anzukommen. Eine lange, von Feuerschein statt von Glühbirnen erhellte Nacht in Gemeinschaft mit dem Häuptling unter fern verrauschendem Tropenregen steht uns bevor. Denn der Generator wird nur für besondere Gelegenheiten angeworfen.

Hilfe, ein oft leeres Wort
Hilfe, ja Hilfe wird den Indios oft versprochen von Seiten der staatlichen Indianerschutzbehörde, von Seiten der Gouverneure der Amazonasstaaten - Kleidung, Schulmaterial für die mittlerweile grossteils wieder indigenen Lehrer, die die Dorfkinder in den ersten Schuljahren in portugiesischer Sprache und brasilianischer Geschichte unterweisen, um in weiterer Folge wieder die Stammessprache sowie Geschichte und Traditionen, das Heilwissen und die Tänze der Ahnen zu vermitteln. So soll das Selbstbewusstsein der indigenen Völker Brasiliens gestärkt, der Reichtum einer Kultur, die jahrhundertelang missachtet und zerstört wurde, neu erschlossen werden. Und doch bleibt die Hilfe der Politik zumeist nur ein leeres Wort.

Aus der nahe liegenden Dorfkirche klingt festlich-fröhliche Musik. Die abendliche Feierstunde hat soeben begonnen, sie gewährt Einblick in die Symbiose aus indianischer und christlicher Spiritualität. Hier kommen zwei einander ergänzende Energien zum Schutz der Mutter Erde und ihrer Kinder zusammen. Und Schutz brauchen die Indios Amazoniens und ihre natürliche Umwelt in hohem und dringlichem Masse. Für die Bewahrung der überlieferten Sitten, gegen die Abholzung des Regenwaldes, gegen den Raubbau von Bodenschätzen in ihren Reservaten, gegen die Übergriffe gedungener Pistoleiros, die die Indiostämme aus ihren angestammten Gebieten vertreiben, um Grossgrundbesitzern den Weg zu ebnen. Schutz vor Übergriffen internationaler Pharmafirmen, die das alte Wissen um die Heilwirkung der Medizinalpflanzen aus dem Regenwald wissenschaftlich usurpieren, um es in den USA und in Europa auf Kosten der indigenen Völker patentieren zu lassen. 500 Jahre nach der «Entdeckung» Brasiliens ist es - nicht zuletzt für die internationale Gemeinschaft - ein Gebot der Gerechtigkeit wie der Scham, die Kultur der Ureinwohner vor der drohenden vollständigen Vernichtung zu bewahren.